gesetze

_>


 | konzession  | veranstaltungen

ig kultur wien

_>


 | handbuch  | vergnügungssteuer

kultur

_>


 | förderungen  | veranstaltungen

medien

_>


 | medienkonferenz 1999

pressemeldungen

_>


 | gesellschaft  | politik

soziales

_>


 | pflegeeltern

vereinswesen

_>


free4u


 | anmeldung für eine eigene seite bei action.at

search


 | suche auf action.at

 

Für eine Vielfalt kritischer Kräfte

Pierre Bourdieu im Gespräch mit dem STANDARD




Pierre Bourdieu, vom 10. bis 12. 11. zu Gast in Wien, im Gespräch mit dem STANDARD

"Der Neoliberalismus hat eine Heerschar ratloser Menschen hervorgebracht, die bereit sind, sich dem erstbesten Demagogen auszuliefern."

Vom 10. bis zum 12. November findet in Wien der Kongress "Opposition bilden!" statt, an dem auch der französische Star-Soziologe Pierre Bourdieu, teilnehmen wird. Franz Schultheis traf ihn vorab zu einem
Gespräch.

Aus dem Französischen übertragen von Peter Scheiffele

STANDARD: Pierre Bourdieu, die Gruppe Raisons d'agir, die Sie vor einigen Jahren ins Leben gerufen haben, hat zum 1. Mai 2000 eine Charta zur Einberufung der Generalstände für ein soziales Europa veröffentlicht. Können Sie erläutern, um was es dabei geht?

Pierre Bourdieu: Es geht zunächst einmal darum, für eine Vielfalt kritischer Kräfte - Wissenschafter, Gewerkschafter, Künstler aller Gattungen und Vertreter sozialer Bewegungen und Bürgerinitiativen - eine
effiziente Organisationsform zu finden. In jedem Land gibt es Hunderte kritischer sozialer Bewegungen und eine große Zahl engagierter kritischer Zeitungen und Zeitschriften mit sehr wertvollen Beiträgen und Analysen für die Zukunft Europas und der Welt. Aber all das ist unverbunden und häufig agieren solche ganz ähnlich orientierten Gruppen in ihren nationalen, regionalen oder gar lokalen Kontexten ohne voneinander zu wissen und ohne ihre Kräfte sinnvoll miteinander verbinden zu können. Ja schlimmer noch: Oft konkurrieren diese Gruppen und Intellektuellen des linken gesellschaftskritischen Spektrums so sehr miteinander, dass sie ihre wirklichen Gegner und Ziele aus den Augen zu verlieren scheinen. Die herrschenden Kräfte hingegen haben schon seit jeher gut funktionierende internationale Kontakte, sie verfügen über die Techniken rascher und wirkungsvoller Kommunikation, haben die Mittel zum Reisen und sind polyglott. Sie haben ihre Think-tanks, große internationale Auftritte wie jenen in Davos - es gibt sozusagen eine große "Internationale" der Großunternehmen, der Großjournalisten und so weiter. Am anderen Rande des sozioökonomischen Spektrums hingegen sind die Menschen vereinzelt, ohne effiziente Selbstorganisation und Interessenvertretung und ohne wirkungsmächtige Sprachrohre. Wir versuchen die Kräfte auf dieser Seite zu vereinen. Die Großunternehmen haben ihre Berater für Marketing, Publicity und Medienwirksamkeit. Ihnen
braucht man nicht mehr erklären, wie man sich strategisch der Medien bedient, um zum gewünschten Erfolg zu gelangen.

Eine Funktion der kritisch engagierten Sozialwissenschaften, wie ich sie verstehe, könnte darin bestehen, solche Kompetenzen und politische Handlungsressourcen auf der Gegenseite zu organisieren und den Leuten zu sagen: Was euch widerfährt, ist nicht einfach ein unbegreifliches Schicksal, welches ergeben hingenommen werden muss, sondern es gibt greifbare Gegenmittel, Auswege und Lösungen. Unsere Charta ist hervorgegangen aus vielen Diskussionen in den verschiedensten europäischen Ländern im Laufe der letzten Jahre und verstand sich von Beginn an als Grundlagentext für eine Sammlungsbewegung aller kritischen und progressiven Kräfte in Europa. Sie wurde zum 1. Mai 2000 in Frankreich, der Schweiz, Deutschland, Spanien, Italien und anderen Ländern Europas, Lateinamerikas und Ostasiens veröffentlicht. Sie sollte der Beginn einer großen gemeinsamen Anstrengung sein, Grundsätze für echte politische Alternativen zu einer neoliberalen Politik zu erarbeiten, wie sie sich vor unseren Augen, gerade auch unter
sozialdemokratischen Regierungen, immer weiter zementiert, und vor allem auch die organisatorischen Rahmenbedingungen für ein gemeinsames Vorgehen gegen diese Politik zu schaffen. Die Resonanz auf diesen Aufruf war überraschend stark und einhellig positiv. Tausende von Unterschriften aus vielen Ländern gingen ein und wurden auf unserer Website www.raisons.org veröffentlicht.

STANDARD: Und Raisons d'agir selbst? Welche Ziele verfolgt diese Gruppe und wie arbeitet sie?

Bourdieu: Das Netzwerk Raisons d'agir hat seit dem Jahre 1995, wo es vor dem Hintergrund der damaligen Dezember-Streiks ins Leben gerufen wurde, Ableger in den verschiedensten Ländern erhalten, und die jeweiligen lokalen Gruppen in Brüssel, Paris, Athen, Lausanne, Konstanz, Grenoble oder jetzt ganz frisch gegründet auch in Graz, wie ich gerade gehört habe, sind in sehr unterschiedlicher Weise politisch aktiv, organisieren Tagungen, greifen über Petitionen in den öffentlichen Diskurs ein oder publizieren kritische Analysen zu den unterschiedlichsten lokalen, nationalen oder internationalen Fragestellungen. Diesem Zweck dient auch die gleichnamige Buchreihe, mittlerweile in Frankreich, Griechenland, den deutschsprachigen Ländern und in Südamerika präsent, in der wir kleine pamphletartige Einmischungen in die politischen Debatten veröffentlichen und mit einem zum Teil sehr beachtlichen Erfolg an den Leser bringen. Dieser relativ beachtliche Erfolg von Raisons d'agir steht im krassen Gegensatz zu den mehr als bescheidenen Mitteln, über die wir verfügen. Wir sind nur ein paar Dutzend Engagierter, haben fast keine finanziellen Mittel und betreiben allzu oft Selbstausbeutung.


STANDARD: Was führt Sie und die Gruppe Raisons d'agir nach Wien? Wie ist die hier vom 10. bis 12. November 2000 organisierte Veranstaltung zustande gekommen?

Bourdieu: Es handelt sich ja hier nicht um die erste Veranstaltung dieser Art. Im Laufe der letzten zwölf Monate hatten wir Treffen in Loccum, Zürich und Berlin und nach unserer Wiener Tagung wird ein sehr großes Treffen in Athen vorbereitet, wo wir anlässlich der griechischen Präsidentschaft in der EU eine noch weiter vorangetriebene und fundierte Charta präsentieren und verabschieden wollen. Unser Treffen hier in
Wien, das auf eine Initiative der Vertreter verschiedener Widerstandsgruppen zustande kam, ist also Glied einer längeren Kette. Wenn ich es richtig sehe, geht unsere Einladung hier nach Wien unter anderem auch auf eine Video-Botschaft an die Adresse der österreichischen Widerstandsgruppen anlässlich einer von der I.G.-Kultur organisierten Veranstaltung im Frühjahr dieses Jahres zurück, die wohl bei einigen unserer jetzigen Gastgeber in Wien Interesse und Lust auf eine Zusammenarbeit mit Raisons d'agir geweckt hat.

STANDARD: Und von den konkreten Inhalten und Zielen her besehen, was haben Sie da an Erwartungen an diese Veranstaltung?

Bourdieu: Hierin sehen wir eine doppelte symbolische Signalwirkung: Einerseits geht es um die Präsenz progressiver europäischer Kräfte am Schauplatz der gegenwärtig wohl engagiertesten politischen
Auseinandersetzungen im Kontext der Europäischen Union. Wie ich schon in meiner damaligen Grußbotschaft an die Adresse der österreichischen Widerstandsgruppen klar betonte, ist die europäische Boykottpolitik, die ja mittlerweile kläglich gescheitert und eher als ein symbolisches Eigentor gewertet werden muss, grundlegenden Irrtümern aufgesessen. Hinter dem vermeintlichen österreichischen "Sonderfall" sehen wir von Raisons d'agir allgemeine Entwicklungstendenzen unserer fortgeschrittenen Industriegesellschaften und was hier an Angriffen auf den Sozialstaat, den öffentlichen Sektor, die Staatsdiener etc. beobachtet werden kann, ist auch andernorts in mehr oder minder ausgeprägter Form am Werk. Unsere Interessen an einem intensiven Austausch und einer engen Kooperation mit den hiesigen
Widerstandsgruppen und sozialen Bewegungen gelten den hier, mit einer spezifischen nationalen bzw. nationalistischen Variante der neoliberalen Ideologie, dieser seltsamen konservativen Revolution, gemachten
Erfahrungen und den im Umgang mit ihr entwickelten neuen symbolischen Ausdrucksformen politischer Gegenwehr.

STANDARD: In Ihrer Video-Botschaft äußerten Sie die Hoffnung, dass sich das politische Missgeschick Österreichs zu einer Chance für Österreich und ganz Europa wenden könnte. Wie meinten Sie das?

Bourdieu: Schon damals sagte ich ja, dass ich keinesfalls eine einfache paradoxe Verkehrung ins Gegenteil beabsichtigte, solche Sophistereien liegen mir nicht. Dennoch war und bin ich überzeugt, dass dieses
Österreich angesichts der jüngsten historischen Erfahrungen, die es selbst aus dem Schlaf aufschreckte, vielleicht in der Lage sein könnte, ganz Europa aus dem Schlaf zu rütteln. Und heute wie damals bin ich der
Überzeugung, dass alle europäischen Intellektuellen, Gewerkschaften, alle kritischen Bewegungen in Europa sich nicht um irgendwelche Boykottaufrufe scheren sollten und stattdessen zusammenrücken und
solidarisch aktiv werden sollten. Damals wie heute stimmte mich die massive Beteiligung der jungen Menschen an den Protestveranstaltungen hoffnungsvoll.

STANDARD: Andernorts haben Sie die Gelegenheit ergriffen, die in verschiedenen europäischen Ländern regierungsmächtige Sozialdemokratie massiv zu kritisieren.

Bourdieu: Ja, denn zu den direkten Folgen des Neoliberalismus als einer konservativen Revolution, durch welche die Bedeutung sämtlicher politischer Koordinaten und Orientierungspunkte verkehrt wurde, kommen
noch die Konsequenzen sozialdemokratischer Heuchelei hinzu, der eine zweite Bedeutungsverschiebung zu verdanken ist, welche den Effekt falschen Wissens noch verstärkt hat. Die Selbstauflösung und Abdankung
der traditionellen Sozialdemokratie und die jetzt im gegebenen Parteienspektrum fast ungeteilte Herrschaft des Neoliberalismus in Europa und in der gesamten Welt hat eine ganze Heerschar ratloser, entmutigter Menschen hervorgebracht, die aus enttäuschter Hoffnung bereit sind, sich dem erstbesten Demagogen auszuliefern. Und so darf man sich auch nicht wundern, dass es in Gesellschaften wie den USA so weit
gekommen ist, dass mittlerweile mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten auf die Nutzung ihres demokratischen Stimmrechts verzichten. Zu einer solchen Entpolitisierung kommt es, wenn die Politik dank eines systematischen Rückzugs des Staates aus seinen angestammten sozialen Verantwortlichkeiten und Regelungsfunktionen die Mächte der Ökonomie entfesselt, die hierbei schutzlos gewordenen Menschen sich selbst überlässt und die Medien sich in den Dienst jener populistischen Kitschfiguren stellt, die sich dank dieser Unterstützung im Lichte des öffentlichen Interesses und dem Anschein politischer Machtfülle sonnen
können und dabei ja selbst diese dramatische Entpolitisierung verkörpern und verstärken.
(DER STANDARD, Print-Ausgabe, ALBUM 4./5. 11. 2000)


LINKS

http://www.raisons.org/
(Deutschland)


HyperBourdieu

Nach amerikanischem Index ist Pierre Bourdieu der meistzitierte französische Wissenschaftler. Eine von den Linzer Kulturtheoretikern und -forschern Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich ins Internet (http://www.iwp.uni-linz.ac.at/lxe/sektktf/bb/Hyper...) gestellte Bibliographie weist von 1958 bis Oktober 2000 etwa 1600 Veröffentlichungen aus, die Bourdieu als Autor, Koautor, Herausgeber oder Koherausgeber verzeichnen.

Hinter diesem Textvolumen steckt die Tatsache, dass Bourdieu einerseits immer wieder auf "Bausteine" zurückgreift, um sie zu bearbeiten und weiterzuentwickeln, sodass ein Text in bis zu sieben Versionen
auftaucht. Andererseits verlieren sich viele seiner Koautoren ab 1975 nach und nach in den Fußnoten und oft auch aus diesen. Der Name Bourdieu, so die beiden Bibliographen trocken, "steht so oft als Etikett für eine Gruppenarbeit".


Opposition Bilden!

Zum Kongress
Etwas mehr als ein Jahr ist es nun her, seit die Wahl stattfand, die in Österreich so viel verändern sollte und die in weiterer Folge am 19. Februar 300 000 Menschen auf dem Heldenplatz gegen die schwarz-blaue
Koalition demonstrieren ließ. Während die neue Regierung nach ihrem Amtsantritt ihre Forderung nach "weniger Staat" konsequent in die Tat umzusetzen begonnen hat, sind die Stimmen nicht verstummt, die fragen, ob es sich beim "Schwinden des Staates" nicht um eine Entpolitisierungs-Strategie handelt, die nicht auf den Staat an sich, sondern lediglich auf den demokratischen Sozialstaat zielt. Aus dem Protest vom 19.
Februar ist unter der Ägide der "Demokratischen Offensive" inzwischen ein Projekt geworden, das sich vom Reagieren aufs Handeln zu verlegen beginnt.

Gründe zum Handeln, "raisons d'agir", heißt auch die von Pierre Bourdieu und einigen Freunden ins Leben gerufene politischen Bewegung, die vom 10. bis zum 12. November an einem von unterschiedlichen Gruppierungen (darunter SOS Mitmensch, Dr. Karl-Renner-Instiut, Republikanischer Klub, Grüne Bildungswerkstatt und verschiedene Gewerkschafts- Fraktionen) und der "Demokratischen Offensive" veranstalteten Kongress zu Gast sein wird. In verschiedenen - auf vier Veranstaltungsorte verteilte - Ateliers wird in großem Rahmen eine profunde öffentliche Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Fragen ermöglicht, die am 11. November um 19.30 Uhr mit einer "Wiener Vorlesung" von Bourdieu im Künstlerhaus ihren Höhepunkt und einer Podiumsdiskussion am 12. um 10.30 Uhr ihren Abschluss findet (für beide Veranstaltungen sind im Künstlerhaus ab 7. 11. Zählkarten erhältlich). Weitere Informationen unter www.demokratische- offensive.at/ oppositionbilden.html

Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf das Projekt "Stille. An die Unaufrichtigkeit", das Hanns Kunitzberger seit dem 4. März (am 4. Februar 2000 wurde die Österreichische Bundesregierung angelobt) im
Künstlerhaus, Karlsplatz 5 unterhält. Jeden 4. des Monats widmet sich die Veranstaltungsreihe einer weitgehend europäischen Betrachtung und ist so Monat für Monat ein Ort unterschiedlicher kultureller
Darstellungsformen. Die 9. "Stille" wird am 4. November um 19 Uhr mit Beiträgen von Robert Misik, Ernst Dorfi, Reinhard Knoll und einer abschließenden Musikperformance im Künstlerhaus stattfinden. Näheres zum Projekt unter www.k-haus.at/stille
(steg)


updated: 06.11.2000 by werner
 
 
artists communication theory information organizations network
==== ©reated '98-'01 by a.c.t.i.o.n. ====